1378(km)
Als Modifikation basierend auf dem Multiplayer-Modus des populären Spiels Half Life 2 thematisiert 1378(km) als explizites „Anti-Ballerspiel“ aus Perspektive eines jungen Grenzsoldaten die deutsch-deutsche Teilung sowie die „Mauerschützenprozesse“ der Nachwendezeit.
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Erinnerungskulturelle Einordnung
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Obwohl sie für Jahrzehnte international eine der bedeutendsten Konfliktzonen war und als Narbe des Zweiten Weltkriegs mitten in Deutschland klaffte, befassen sich kaum digitale Spiele mit der deutsch-deutschen Teilung und der aufgerüsteten innerdeutschen Grenze. In der Mitte der siebziger Jahre modernisierte die DDR das Grenzbollwerk massiv, um einen wachsenden Fluchtdruck aufzuhalten. Für 1378(km) rekonstruierte Jens Stober einen exemplarischen Abschnitt dieser Grenzanlage für das Jahr 1976, indem er den Multiplayer-Shooter Half Life 2: Team Deathmatch modifizierte. Spielende teilen sich darin in zwei Gruppen: Als Grenztruppen versuchen sie Flüchtende aufzuhalten, indem sie die Sicherungsanlagen nutzen. Letztere wiederum versuchen, außer Sicht zu bleiben, tödliche Sicherheitsmaßnahmen wie Sprengfallen und Selbstschussanlagen zu umgehen und durch Lücken in der Anlage zu entkommen. Dass Spielende als Grenzer auf Flüchtende das Feuer eröffnen und sie gar töten können, löste eine Empörungswelle in der Bundesrepublik aus. Dabei belohnt das Spiel ja gerade nicht solche Gewaltakte, weil Stober das Projekt als aufklärende, historisch-politische Medienkunst konzipierte. Wer die Waffe abfeuert, den katapultiert das Spiel auf die Anklagebank eines Mauerschützen-Prozesses der Nachwendezeit. Dort wird das Verbrechen verurteilt.
Erinnerungskulturelle Bedeutung
Mit 1378(km) griff Jens Stober einen wichtigen Abschnitt der deutschen Geschichte auf, den digitale Spiele kaum thematisieren. Er modifizierte ein bekanntes Spielprinzip seiner Generation in Setting und Spielmechanik. Damit verstörte er Erwartungen an die Spielform und schuf so einen innovativen Ansatz für die historisch-politische Bildung.
Modifikationen bilden einen wesentlichen Teil der Videospielekultur. Teils fügen sie nur Objekte hinzu, verändern Teilaspekte wie den grafischen Stil, versetzen aber gelegentlich auch Spiele komplett in andere Szenarien (Total Conversion). Aneignungen digitaler Spiele durch Modifikationen führten sogar zu kommerziell erfolgreichen Unternehmen („Counter Strike“, „Desert Combat“). In der historisch-politischen Bildung wird dieses kreative Potential viel zu wenig verstanden und genutzt. Technisch und spielmechanisch dem Projekt von Stober ähnlich, schuf etwa die Künstlergruppe gold extra das Multiplayer-Spiel Frontiers über Flucht und Migration an den europäischen Außengrenzen. Weil Spielende in digitalen Spielen eigenständig in einer reagierenden Umwelt handeln und damit ihre Entscheidungen verantworten, entfalten digitale Spiele eine besondere Kraft für erinnerungskulturelle Inszenierungen.
Diskussionspunkte
Die Modifikation des Multiplayer-Shooters sollte innovative Medienkunst erschaffen. Unzufrieden mit der Relevanz des Themas in Oberstufe und Gesellschaft, lenkte Stober die Aufmerksamkeit auf die tödlichen Auswirkungen der deutsch-deutschen Teilung und die „Mauerschützenprozesse“ der Nachwendezeit. Weil er auf Jugendliche zielte, verwendet er eine spielerische Umsetzung, die seiner Generation geläufig schien. Das Projekt ist ein Akt der zivilgesellschaftlichen Emanzipation in der Erinnerungskultur.
Allein die Ankündigung löste eine skandalisierende Kampagne der BILD aus. Sie traf auf politische Resonanz, die sich nur durch die „Killerspiele-Debatte“ der 2000er-Jahre verstehen lässt. Alarmistisch schrieben Journalismus und Politik digitalen Spielen eine verrohende Wirkung auf die Jugend zu, die bis heute nicht belegbar ist. Ohnehin betrachtete die Empörungswelle nicht das künstlerischen Konzept von 1378(km). Moralisch empörte schon der Umstand, dass ausgerechnet ein Shooter die DDR-Geschichte inszenierte. Diese mediale und politische Reaktion kennzeichnet wesentlich die Geschichte digitaler Spiele in Deutschland. Offen trat zutage, dass eine unreife Medienkultur digitale Spiele nur mangelhaft verstand und allein deswegen nicht wertschätzte. Dieser ignorante Kulturkampf wirkt bis heute in skeptischen Haltungen nach, das Medium erinnerungskulturell kreativ einzusetzen.
Einsatzmöglichkeiten
Erinnerungskulturell sind digitale Spiele bereits interessant, weil Spielende aktiv in historischen Umgebungen handeln. Niedrigschwellige Hilfsmittel erlauben zudem eigene Produktionen (z. B. Twine oder der RPGMaker). Spielende können bestehende Spiele auch modifizieren, um sich das Medium für eigene Ideen anzueignen. Über das Thema der deutsch-deutschen Teilung hinaus, lassen sich an 1378(km) so zwei zentrale historische Ebenen verknüpfen: Digitale Spiele stehen dafür, sich unablässig für historische Alternativen zu entscheiden. Zweitens ermächtigen sie, sich als Spielende selbsttätig auszudrücken. Den Shooter in gespielter Form an einer Schule einzusetzen, ist technisch anspruchs- und sogar kostenlos. Allerdings nahm die USK keine Alterseinstufung vor und das ursprüngliche Basisspiel war ab 18 freigegeben. Mittlerweile fußt 1378(km) auf einem Servicepaket der Source Engine, das nicht altersgeprüft wird. Das Thema und die Reflexion von Schüssen auf Flüchtende in einem Multiplayer-Spiel setzt dennoch einen Reifegrad voraus, der eher in einer gymnasialen Oberstufe zu suchen ist. Die empörte Debatte im Kontext der Killerspiel-Vorurteile lässt sich im Unterricht auch mit jüngeren Schüler*innen thematisieren. Dafür liegen zwei Videos von Stober zum Spielhintergrund und zum Medienecho auf sein Projekt vor. Ergänzende Textarbeit ermöglichen Artikel über die Empörung und den Schaffensprozess sowie zur Einordnung in die „Killerspiele-Debatte“ und ihrer Folgen bis heute.
Weiterführendes Material
- Stober, Jens. „1378(km). Wer schießt, verliert: Ein Serious Game über die innerdeutsche Grenze.“ https://1378km.de/, zuletzt aufgerufen am: 6.6.2021.
- Stober, Jens. „1378(km): Gratis Ego-Shooter an der DDR-Grenze: Download.“ WinFuture 11.12.2010. https://winfuture.de/downloadvorschalt,2630.html, zuletzt aufgerufen am: 6.6.2021.
- Nolden, Nico. „Die Mauer in den Köpfen: Sein Serious Game ‚1378km‘ zur innerdeutschen Grenze bringt Medienstudenten Jens Stober vor den Staatsanwalt.“ Keimling. Innovationen in digitalen Spielen und im Digital Game-Based Learning 8.11.2010. https://www.niconolden.de/keimling/?p=716, zuletzt aufgerufen am: 6.6.2021.
- Stober, Jens. „Der Skandal um 1378(km): Heute vor zehn Jahren.“ ELORX 3.10.2020. https://elorx.com/2020/10/03/der-skandal-um-1378km-heute-vor-zehn-jahren/, zuletzt aufgerufen am: 6.6.2021.
- Gießler, Denis. „1378(km): Wie ein Student mit einem DDR-Computerspiel einen Skandal auslöste.“ Vice 8.11.2019. https://www.vice.com/de/article/gyz994/1378-km-half-life-mod-zu-wiedervereinigung-und-mauerschutzen, zuletzt aufgerufen am: 6.6.2021.
- Nolden, Nico. „Alles auf’s Spiel setzen?! Digitale Spiele und 30 Jahre Wiedervereinigung.“ Kanal anders & wissen. das Projektlabor via YouTube 3.10.2020. https://youtu.be/KrFYJqRAAq8, zuletzt aufgerufen am: 6.6.2021.
- Nolden, Nico. „Ein Schritt voran muss kein Fortschritt sein: Einen Beitrag des Magazins ‚frontal_` zu radikalen Spielerkreisen rettet nicht einmal der mächtigste Kulturwissenschaftler.“ Keimling. Innovationen in digitalen Spielen und im Digital Game-Based Learning 22.12.2020. https://www.niconolden.de/keimling/?p=3464, zuletzt aufgerufen am: 6.6.2021.
Zitierempfehlung
Nolden, Nico. „1378(km)“. Datenbank Games in der Erinnerungskultur. Stiftung Digitale Spielekultur, 24.6.2021. [URL], zuletzt aufgerufen am: [DATUM]