Spielcover: Forced Abroad

Forced Abroad

In der interaktiven Graphic Novel Forced Abroad verfolgen die Spieler*innen das Schicksal des jungen Niederländers Jan de Boer während seiner Zwangsdeportation nach Dachau. Im Stil eines Tagebuchs steht Jan Gefühlswelt und seine Reaktionen auf die Erfahrung von Angst, Hunger und Kälte im Vordergrund.

Allgemeine Infos

  • Entwickler: Paintbucket Games (Deutschland)
  • Publisher: NS Dokumentationszentrum München
  • Erscheinungsjahr: 2022
  • Genre: Adventure
  • Thema: Flucht und Migration, Holocaust, Nationalsozialistische Herrschaft, Zweiter Weltkrieg
  • Zugänglichkeit: Deutsche Sprachversion, Englische Sprachversion, Kostenlos
  • Vermittlungspotenzial Hoch
  • Zeitaufwand Gering
  • Komplexität Gering
Erklärungen zur Bewertung

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Erinnerungskulturelle Einordnung

Autor: Bastian Dawitz

Bastian Dawitz begeistert sich für sog. „History Games“ und forschte an Geschichtsbildern Digitaler Spiele in einer Studentischen AG der Uni Paderborn.

Der 19-Jährige Jan de Boer erlebt die letzten Monate des Zweiten Weltkrieges in seiner besetzten Heimatstadt Rotterdam. Unter dem Eindruck der Zwangsdeportation von über 50.000 Männern in der „Aktion Rosenstock“ im November 1944 durch die NS-Besatzer beginnt er daraufhin ein Tagebuch über seine Erlebnisse zu führen. Durch den Druck der Besatzer mit der Aufforderung an junge Männer, sich zum Arbeitsdienst zu melden, beginnt Anfang Januar 1945 für Jan schließlich eine düstere Reise, die ihn ins Zwangsarbeiterlager Neuaubing bei München führt.

Im Stil eines Visual Novel wird die Geschichte in Forced Abroad über illustrierte und rudimentär animierte Grafiken in Kombination mit Tagebucheinträgen erzählt. In diesen Einträgen lassen sich Antworten und Gedankengänge Jans zum Fortfahren der Geschichte auswählen, manchmal mit mehreren Optionen, die den Verlauf der Geschichte zum Teil leicht beeinflussen. Hin und wieder wird von den Spielenden verlangt, an einer Spielgrafik über den Bildschirm zu streichen, beispielsweise wenn Jan mit seinem Vater einen Baum für Brennholz fällt. Außerdem lassen sich ab und zu Grafiken anklicken, die einen Glossareintrag mit historischen Hintergrundinformationen im Hauptmenü freischalten.

Erinnerungskulturelle Bedeutung

Forced Abroad stellt eine ernste spielerische Annäherung an das Leiden der Zivilbevölkerung und der Zwangsarbeit im Rahmen der NS-Besatzungsherrschaft dar. Es basiert auf den überlieferten Tagebucheinträgen des niederländischen Zwangsarbeiters Jan Henrik Bazuin. Das Spiel wurde in Kooperation mit dem NS-Dokumentationszentrum München als Teil des Projektes „Departure Neuaubing – Europäische Geschichte der Zwangsarbeit“ entwickelt.

Im Gegensatz zu den meisten digitalen Spielen im Setting des Zweiten Weltkriegs geht es darin nicht um dezidiert militärhistorische Themen, sondern die Wahrnehmung und Verarbeitung von NS-Besatzungsherrschaft und Zwangsarbeit durch eine Einzelperson in Form eines Tagebuchs. Es ist also perspektivisch ein individueller Zugang, der aber zugleich auch Schlaglichter auf seine Umgebung wirft und damit einen erinnerungskulturellen Erfahrungshorizont zeichnet. Damit unterscheidet sich Forced Abroad substanziell von den eher abstrakt gehaltenen Konfliktsimulationen oder auch Globalstrategiespielen mit ihrem starken Fokus auf Militär und Wirtschaft und auch von den auf Waffengewalt fokussierten Ego-Shootern zum Zweiten Weltkrieg.

Insofern handelt sich bei Forced Abroad um einen Sonderfall, da es bewusst keinen Schwerpunkt auf Spielspaß im Sinne eines interaktiven Gameplays, sondern auf eine für ein Visual Novel typische relativ lineare Erzählung legt.

Diskussionspunkte

Als Visual Novel legt Forced Abroad seinen Fokus deutlich auf die Nacherzählung der Geschichte des Niederländers Jan de Boer. Ein großer Vorteil daran ist, dass somit die „Occupier driven“ (Jan Gross) Natur der NS-Besatzungsherrschaft gut zur Geltung kommt: Jan findet sich unter dem Handlungsdruck innerhalb der besetzten Niederlande als passive Figur wieder, das „freiwillige“ Melden wird von den NS-Besatzern unter Androhung von Strafe öffentlichkeitswirksam verlangt und im Rahmen der sich zuspitzenden Versorgungslage der Zivilbevölkerung zur ausweglosen Notwendigkeit für viele junge Männer. Die Erzählung ist insgesamt sehr kindgerecht und einfühlsam geschrieben, so dass der Zugang zu diesem düsteren Thema leicht fallen dürfte.

Vor dem Hintergrund des überwiegenden Verzichts auf interaktive Elemente ist es schade, dass zentrale Entscheidungen Jans innerhalb der Geschichte vom Spiel und nicht von den Spielenden getroffen werden, z. B. ist die Flucht aus dem Lager kurz vor Kriegsende alternativlos. Die Reduktion der Wirkmacht (Agency) der Spielfigur Jans wiederum wird zumindest zum Teil von der Agency von Nebenfiguren abgefangen. So lernt Jan Lucas als vertrauenswürdigen Freund kennen, der im Gegensatz zu ihm mutiger gegenüber den Besatzern auftritt. Insgesamt zeigen manche Nebenfiguren Jan neue Perspektiven innerhalb seiner Geschichte auf und lassen ihn immer wieder zwischen Verzweiflung und Hoffnung schwanken.

Einsatzmöglichkeiten

Als kostenloses Mobile Game mit ein bis zwei Stunden Spielzeit eignet sich das Spiel sehr gut für das gemeinsame Erspielen einzelner Kapitel oder auch des gesamten Spiels. Handelsübliche Mobilgeräte bzw. Tablets reichen zum Spielen vollkommen aus und senken somit die Hardwareanforderungen im Vergleich zu anderen digitalen Spielen erheblich.

Die Quellenorientierung von Forced Abroad ist besonders nützlich für die Anknüpfung als praktisches Beispiel für die Verarbeitung des Erlebten unter der NS-Besatzungsherrschaft und dem Themenkomplex Zwangsarbeit. Dabei sind auch die freischaltbaren Glossartexte sehr nützlich, die auffindbaren Alltagsgegenständen aus Ereignissen der Geschichte zugeordnet sind und diese in einen größeren Kontext einordnen.

Da die Erzählung kindgerecht und nahbar geschrieben ist, lässt sich die erwartbare Emotionalisierung bei Schüler:innen als Ausgangspunkt für anschließende Diskussionen aus ihrer heutigen Perspektive nutzen, bspw. welche Wirkung die Geschichte des Zwangsarbeiters Jan auf sie gehabt hat und wie sie sich vorstellen, in einer vergleichbaren Situation zu reagieren.

Auch vorstellbar für Schüler:innen ab der Oberstufe ist eine Diskussion um die Umsetzung des Stoffes im Medium Videospiel, anknüpfend an die Frage, ob ein höherer Grad von Interaktivität und Agency der Spielenden wünschenswert oder kontraproduktiv gewesen sei. Vor diesem Hintergrund lassen sich auch die stärkere Agency einiger Nebenfiguren und Jans Erfahrungen mit verschiedenen Perspektiven unter den gleichen Umständen einbeziehen. Zum Beispiel lernt Jan durch seine Liebe zu Annie ihre Familie kennen, in der trotz gleicher Umstände eine weniger verzweifelte Atmosphäre herrscht.


Weiterführendes Material

Zitierempfehlung

Dawitz, Bastian. „Forced Abroad“. Datenbank Games und Erinnerungskultur. Stiftung Digitale Spielekultur, 31.05.2022. [URL], zuletzt aufgerufen am: [Datum]

Förderer

Dieser Beitrag wurde im Rahmen des Migration Lab Germany aus Mitteln der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ), der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, Beauftragte der Bundesregierung für Antirassismus und der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) gefördert.