Forschung

Journalismus zum Spielen

© The Good Evil: PRISM - The Game, 2013

Ich bin gerade in den eiskalten Atlantik gestürzt, hab mich am Strand am Stacheldraht orientiert, bin gerobbt, habe Menschen sterben sehen, bin dann den Hügel hochgeklettert und in den Bunker rein. Ich spiele Medal of Honor.

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Wochen später entdecke ich den Bunker in einer Fernsehreportage über den 2. Weltkrieg. Die Übereinstimmungen zwischen Archivmaterial und Spiel sind verblüffend. Ich habe eine emotionale Bindung zu diesem Ort hier aufgebaut, die dauerhafter und stärker ist als jede Reportage und jeder Bericht. Das war der Moment in dem ich das erste Mal über die sinnvolle Verquickung von Spiel und Wissensvermittlung nachgedacht habe. Aber warum jetzt Newsgames?

DER JOURNALISMUS, DAS INTERNET UND DIE DIGITALEN SPIELE

Die flächendeckende Verbreitung des Internets hat die Art und Weise verändert wie wir Inhalte erstellen, Produkte konsumieren, wie wir untereinander kommunizieren – kurz gesagt: wie wir leben. Das wirbelt derzeit auch das durcheinander, was wir in den letzten Jahrzehnten unter Journalismus verstanden haben. Stefan Plöchinger, Chef von sz.de, skizziert die einzig mögliche Geisteshaltung, um hier als Journalist/in zu bestehen: „So ist das jetzt wohl immer: Journalismus als Dauerbaustelle. Es ist die angemessene Haltung in einem Mediensystem, das sich permanent ändert.“ (http://ploechinger.tumblr.com/post/61688994730/wie-wir-nach-vorne-denken-sollten-acht-thesen-zur)

Und an dieser Stelle kommen die Spiele. Denn Journalismus findet derzeit und in Zukunft wahrscheinlich noch mehr auf digitalen Geräten statt. Auf Computern, bei denen es sich – egal ob sie aussehen wie ein Smartphone, eine Brille oder ein Tablet-PC –  um Ein- und Ausgabegeräte handelt, mit denen man interagieren kann. Ein perfektes Terrain für digitale Spiele.

Newsgames, also Spiele, die im journalistischen Kontext Verwendung finden und bei deren Erstellung journalistisch-ethische Grundregeln eingehalten werden, ermöglichen im Unterschied zu traditionellen linearen Medien die interaktive Erfahrung von Inhalten. Zum Beispiel die Landung in der Normandie. Auch wenn ich hier nicht behaupten möchte, dass das eben erwähnte „Medal of Honor“ als Newsgame durchgeht.

Nicht alles muss oder sollte ein Spiel sein. Genausowenig wie ich am Fahrkartenautomaten erst ein Spiel spielen möchte, um eine Fahrkarte zu kaufen, möchte ich Breaking News via Games vermittelt bekommen. Die Vorteile und Möglichkeiten vor allem digitaler Spiele kann und sollte man aber im Kontext Journalismus des 21. Jahrhunderts da nutzen, wo sie sich gewinnbringend und sinnvoll einsetzen lassen.

Auf einer etwas theoretischeren Ebene möchte ich hier auf die von dem Game Designer und Akademiker Ian Bogost im Buch Persuasive Games skizzierte prozedurale Rethorik (http://www.bogost.com/books/persuasive_games.shtml) verweisen. Die besagt, in aller Kürze, dass wir Inhalte, Meinungen und Diskurse inzwischen nicht nur mittels Schrift, Stimme und zum Beispiel auch bewegten Bildern transportieren können, sondern dass dies ebenfalls mittels eines Computerprogramms möglich ist. Das klingt abstrakt? Ist es auch ein wenig.

KABUL KABOOM! ODER DIE GEBURT DER NEWSGAMES

Ein bisschen konkreter wird es, wenn wir uns die Geburtsstunde des Genres anschauen. Das erste digitale Newsgame entsteht in einem Flugzeug über Amerika gut drei Wochen nach den Anschlägen vom 11. September 2001. Game Designer Gonzalo Frasca ist damals 29 jahre alt. Zwei Tage nach dem Beginn der Operation Enduring Freedom präsentiert Frasca am 9. Oktober 2001 mit einem schlichten Blogposting sein erstes Newsgame („a new little game, 100% codes while in the unfriendly skies“) und schickt damit seinen ganz persönlichen spielbaren politischen Kommentar in die emotional aufgeheizte amerikanische Grundstimmung.

Kabul Kaboom! kombiniert die Game Mechanik des Spiels Kaboom! (1981) mit einer Optik  Optik, die an das Gemälde Guernica von Pablo Picasso erinnert. Es ist also per se etwas für “Eingeweihte“, für jene, die beide Quellen der Inspiration kennen. Und die – darüber hinaus – trotz oder gerade wegen der simplen Graphik etwas in dem Spiel erkennen, die prozedurale Rethorik nämlich, die dem Spiel zugrunde liegt. Kabul Kaboom! ist ein interaktiver politischer Kommentar. Ein Kommentar, der eine Meinung transportiert, die erst im Akt des Spielens sichtbar wird. Und somit vielleicht noch eingängiger ist, als das reine Rezipieren eines Textes.

Die Resonanz auf die folgenden Spiele die Frasca zusammen mit Freunden bald unter der Webadresse Newsgaming.com veröffentlicht, lesen sich verheißungsvoll: Eine neue Form des politischen Ausdrucks (MIT Technology Review), faszinierende Seite mit frischem neuen Gedankengut (USA Today), ein interessantes Beispiel für den wachsenden Einfluss von Spielen auf zeitgenössische Kunst, Politik und Kultur (The Wall Street Journal).

UND HEUTE?

Zeitsprung in die Gegenwart. Seit 2001 wird das Thema Newsgames immer mal wieder von Akademikern, Game Designern, Journalisten und Aktivisten aufgegriffen, ausprobiert und dann oft ad acta gelegt. Warum? Es ist bereits schwer sich ein gutes Spiel auszudenken und umzusetzen. Noch mal viel schwieriger wird es, wenn man nun Inhalte in ein Spiel beziehungsweise in die Mechaniken eines Spiels packen will.

Und doch. Es passiert. Im angelsächsischen Raum mehr als in Europa. John C. Osborn hat hier (http://www.bayreporta.com/newsgame-directory/) eine kleine Liste mit spielbaren Newsgames veröffentlicht. In Analogie zu traditionellen journalistischen Genre kann man hier, wenn man möchte, verschiedene neue Genre erkennen, die Ian Bogost und andere in der bislang einzigen Monographie zum Thema (http://www.bogost.com/books/newsgamesbook.shtm) beschrieben haben.

Aber auch in anderen Kulturkreisen passiert viel in diesem Bereich:. In Brasilien (http://www.newsgaming.de/2011/05/brazilian-newsgames/) beispielsweise gibt es eine sehr aktive Newsgames-Szene. Und beim ersten afrikanischen Subsahara Newsroom Hackathon Mitte September 2013 hat ebenfalls ein Newsgame gewonnen. Der Prototyp war nach 48 Stunden fertig.“The fact that we could pull together a working prototype in less than two days will rock our newsroom.”

Mit dem Format experimentiert haben auch klassische Anbieter wie die New York Times,  BBC, Guardian und Le Monde. Le Monde wird in einer Kooperation mit der Süddeutschen Zeitung im November 2013 eine Art Newsgame launchen (https://twitter.com/ploechinger/status/380262365671215104). Damit wird dann vielleicht auch der bisweilen etwas altbacken anmutene Einsatz von spielerischen Elementen auf deutschen Nachrichtenseite (siehe hier http://x.marcus-boesch.de/quiz/) langsam ein Ende finden.

GUTE AUSSICHTEN FÜR EIN JUNGES GENRE

Newsgame-Designer Tomas Rawlings (https://twitter.com/tomasrawlings)aus Großbritannien prognostiziert derweil gar einen „gaming desk next to all the other desks in the Newsroom“. Bis es soweit ist, muss vor allem in Deutschland noch eine Menge passieren. Auch wenn verschiedene Medienunternehmen das Thema langsam aber sicher für sich entdecken.

Und damit zum Abschluss noch ein paar weitere relevante Punkte:

  • Newsgames können neben der interaktive Erfahrung komplexe systemische Sachverhalte oft besser vermitteln als lineare Medien.
  • Newsgames können auch als so genannter SLAT (Shit-look-at-that-Moment) einen niedrigschwelligen Themeneinstieg bieten und für ein Thema sensibilisieren.
  • Newsgames können Nutzerinnen und Nutzer auf das eigene Angebot bringen und diese durch die Möglichkeiten der Interaktivität länger halten.
  • Newsgames können, müssen aber nicht immer komplex und teuer in der Produktion sein. Vgl. Sisi Wei in Creating Games for Journalism (http://www.propublica.org/nerds/item/creating-games-for-journalism). Zitat: Newsgames Aren’t Much Harder to Make Than Interactive Graphics

Interesse geweckt? Hier gibt es noch mehr zum Weiterlesen:

Und hier noch 10 Newsgames zum selber Entdecken:

  1. September 12th
  2. Spent
  3. Gauging Your Distraction
  4. Budget Hero
  5. Sweatshop
  6. Inside the Haiti Earthquake
  7. HeartSaver
  8. Cutthroat Capitalism: The Game
  9. NarcoGuerra
  10. Gauging Your Distraction

Marcus Bösch hat im Sommer 2010 das erste Mal über Newsgames geschrieben, im Oktober des gleichen Jahres die Website Newsgaming.de gestartet, auf der re:publica 2011 einen allerersten eigenen wackeligen Prototypen präsentiert und im Juni 2013 mit seinem Game Studio the Good Evil GmbH (http://thegoodevil.com) schließlich mit PRISM – The Game das erste Newsgame aus Deutschland gelauncht, das u.a. hier gefeatured wurde: WDR, Arte, Süddeutsche Zeitung. Er berät Medienunternehmen in Sachen Games, gibt Workshops zum Thema Newsgames und plant für 2014 Europas ersten Newsgame Hackathon (http://www.newsgaming.de/2013/08/first-european-newsgames-hackathon-2014/)